Vorreiter: Aulendorf plant behindertengerechte Fasnet

Behindertenbeauftragter und Aulendorfer Narrenzunft arbeiten an drei Projekten

Eine Umzugsmoderation in Gebärdensprache, das Aulendorfer Fasnetsheft in Blindenschrift und ein für Rollstuhlfahrer reservierter Zuschauerplatz beim Großen Narrensprung am Fasnetssonntag: Bei der Aulendorfer Fasnet wird in diesem Jahr erstmals explizit auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung geschaut und sich auf die Suche nach Lösungen gemacht.

Franz-Erwin Kemper (links), Behindertenbeauftragter der Stadt, hat das Infoheft zur Aulendorfer Fasnet in Blindenschrift übersetzt, der stellvertretende Zunftmeister Florian Angele hat die passende Gebärde für den Aulendorfer Narrenruf: „Ha, ha, ha – jo was saischt au!“

Aufgebracht hat die Idee der neue Behindertenbeauftragte der Stadt Aulendorf, Franz-Erwin Kemper – und rannte damit bei Florian Angele offene Türen ein. Nicht nur, weil der stellvertretende Zunftmeister der Aulendorfer Narrenzunft selbst ein behindertes Kind hat, sondern „weil es ein Acker ist, der noch nicht bestellt ist; es hat sich einfach noch keiner darum gekümmert. Aber die Fasnet ist für alle da“, sagt Angele.

Diesen Eindruck bestätigt auch ein kurzer Anruf beim Pressereferent der Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte (VSAN). Er kann sich abgesehen von barrierefrei umgebauten Zunftstuben und dem barrierefrei zugänglichen Fastnachtsmuseum des VSAN in Bad Dürrheim spontan an kein Projekt erinnern, eine Art Behindertenbeauftragten gebe es bei der Vereinigung bislang nicht. Die Aulendorfer Narrenzunft gehört mit ihren rund 1600 Maskenträgern zu den Zünften der VSAN. Auch eine kurze Google-Suche – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – bestätigt den Eindruck: Eine barrierefreie Fasnet scheint in der Region bislang kaum ein Thema zu sein.

Hinter den feinen punktuellen Erhebungen auf dem Papier ergibt sich für Blinde aus dem Muster der Blindenschrift ein Informationsheft über die bunte Aulendorfer Fasnet.

Der Aulendorfer Behindertenbeauftragte Kemper schildert, dass er auf seiner Suche nach Vorbildern nur sehr wenig gefunden habe: „Wir haben recherchiert und finden kein einziges Beispiel in Deutschland – nur in Köln gibt es eine Tribüne, auf der das Geschehen speziell für Blinde beschrieben wird.“ Abschrecken lassen haben sich Kemper und Angele davon nicht: „Ich habe auch gedacht: Wie machen wir das? Aber nichts zu machen ist das Blödeste“, sagt Angele. „Wir wollen zeigen, dass es geht, und dafür sorgen, dass es selbstverständlich wird“, sagt Kemper, der ursprünglich aus dem Rheinland kommt, und hofft, dass die Aktionen Nachahmer finden. Die beiden sammelten Ideen, drehten Gedankenrunden und haben sich für die diesjährige Fasnet drei erste Schritte vorgenommen. Eines davon ist ein Projekt, mit dem Kemper bereits vor einem Jahr angefangen hat und dessen Ergebnis er nun in Händen hält: Er, der er selbst erblindet ist, hat das Fasnetsheft der Narrenzunft in Blindenschrift übersetzt. Herausgekommen ist eine für Sehende unspektakulär aussehende Bindung schlicht weißer Papierbögen, aus denen sich dicht an dicht die feinen Punkte der Blindenschrift abheben. Blinden bietet dieses Heft jedoch ertastbaren Einblick in die bunte Tradition der Aulendorfer Fasnet, deren Figuren und das Geschehen während der närrischen Tage. Im Wesentlichen, beschreibt Kemper, habe er 1:1 übersetzt, „nur, wenn der Text auf ein Bild hinweist und ich davon ausgegangen bin, dass es ohne Bild nicht zu verstehen ist, habe ich Erläuterungen gemacht“. Etwa 20 der Hefte will er, der eine entsprechende Druckmaschine zu Hause hat, herstellen und im Bürgerbüro auslegen.

Beim Großen Narrensprung wird die Moderation für Hörbehinderte in Gebärdensprache übersetzt.

Als zweiten Schritt, der es Behinderten erleichtern soll, die Aulendorfer Fasnet mitzuerleben, wird die Moderation beim diesjährigen Umzug am Fasnetssonntag für hörbehinderte Besucher in Gebärdensprache übersetzt. Eine Dolmetscherin, die in der Gemeinde lebt und mit der Fasnet vertrautist, wird dafür gut sichtbar auf der Ehrentribüne bei der Volksbank stehen und Informationen zu den Hästrägern und den Zünften vermitteln. Dabei werde sie nicht 1:1 die Moderation für das sehende Publikum übersetzen, sondern müsse überlegen, was sie von dem, was sie höre, übersetzten könne, berichten die beiden. Eine Stunde in Gebärden zu dolmetschen sei daher recht anstrengend, weitere Gebärdendolmetscher hätten sie für diesen Tag aber nicht gefunden. Den Einsatz der Dolmetscherin bezahlt dabei die Stadt Aulendorf über das Budget, das dem Behindertenbeauftragten zur Verfügung steht.

Dass sie mit diesem Angebot nicht alle hörbehinderten Menschen erreichen, zeigte sich im Lauf der Vorbereitungen, als sie mit der Zieglerschen Behindertenhilfe in Aulendorf Kontakt aufnahmen, berichtet Angele: „Die nutzen gar nicht die normale Gebärdensprache, sondern eine vereinfachte Lösung.“ Aber es sei eben ein Anfang, es werde sich zeigen, wo Grenzen seien und wo man in Zukunft ansetzen müsse, sagen die beiden.

Beim dritten Ansatz sind Rollstuhlfahrer im Blick; sie sollen beim Fasnetsumzug am Sonntag, 23. Februar, bessere Sicht bekommen. Oder wie Kemper sagt: „Ordner werden dafür sorgen, dass Rollifahrer nicht nur Ärsche sehen.“ Und zwar auf einem speziellen Platz an der Umzugsstrecke, der für Rollstuhlfahrer reserviert sein wird: auf der Zufahrt zum Schlossplatz, schräg gegenüber des Schlosses. Dick oder dünn, arm oder reich, sehend oder blind, bei der Fasnet gehe es auch darum, die Grenzen des „Normalen“ einmal aufzuweichen. „Schön wäre, es wäre das ganze Jahr so, aber zumindest bei der Fasnet sind alle gleich“, sagt Angele und hat dabei auch die Ursprünge des fasnächtlichen Treibens im Blick, damals, als die Obrigkeit den Untergebenen einen narrenfreien Tag gewährte und es gestattet war, auch der Obrigkeit einmal den Spiegel vorzuhalten – quasi eine Urform dieser Grenzverschiebung. Auch deshalb sagt Angele zum Thema Barrierefreiheit: „Wenn nicht an der Fasnet, wann dann?“

Bericht: Schwäbische Zeitung Lokalausgabe Bad Waldsee 18.01.2020
Text und Fotos: Paulina Stumm

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